Goldilocks Ausgabe 14 | Page 6

Not ok , Boomer
Wir werden immer älter : Laut Prognose des Statistischen Bundesamtes könnte die durchschnittliche Lebenserwartung im Jahr 2060 für Männer auf 84,8 und für Frauen auf 88,8 Jahre ansteigen . Zum Vergleich : Aktuell liegt sie bei 78,5 bzw . 83,4 Jahren . Longevity ist der trendige Begriff für diese steigende Lebensdauer und Longevity-Techs sind die Unternehmen , die ihren Beitrag dazu leisten wollen , diese lange Lebenszeit weiter zu verlängern oder zumindest zu verbessern .
Da geht es genauso um die App , die Menschen in Bewegung halten soll , den Pflegeroboter , der mit den Menschen in Pflegeheimen interagiert , oder um neueste Biotech-Erfindungen . Aber zu einem langen Leben gehört eben auch , dass man sich das Altern leisten können muss . Innerhalb der Longevity-Bewegung spricht man dann von Longevity- Fintech , ein zugegebenermaßen noch sehr kleiner Markt . In Deutschland gibt es sehr wenige Startups , die dazu gezählt werden können , darunter die Neobank Brygge .
Cornelia Schwertner ist eine der Gründerinnen dieses Hamburger Fintechs , das seine App die „ smarte Lesebrille beim Banking “ nennt . Einfach , weil man ab einem bestimmten Alter halt etwas mehr Unterstützung braucht – und ihr Unternehmen will sie bieten . Ihre Zielgruppe nennen sie bei Brygge „ Menschen in der zweiten Hälfte ihres Lebens “. „ Bei diesen Menschen geht es nicht mehr um den langfristigen Vermögensaufbau “, erzählt uns Cornelia im Gespräch . „ Es geht eher darum , wie man Vermögen sinnvoll wieder abbaut , wenn es da ist . Sonst geht es eher darum , wie man bis zum Monatsende durchhält .”
Diesen Menschen bieten die Macherinnen von Brygge nicht etwa ein neues Konto , sondern eine auf Open Banking basierende App , in der ein vorhandenes Konto – zum Beispiel von einer Sparkasse – eingebunden wird . Sicherlich eine gute Entscheidung , schließlich sinkt statistisch gesehen mit dem Alter die Wahrscheinlichkeit , dass jemand sein Girokonto wechselt .
Auf der Brygge-Website ist zu lesen , dass 70 Prozent der Menschen ab 60 Jahren noch nicht den Schritt ins Online-Banking gegangen sind . Angesichts des drastischen Filialsterbens der vergangenen Jahre bedeutet das für die Zielgruppe auf kurz oder lang ein Problem .
Applause , ein US-Unternehmen , das sich auf App- Tests spezialisiert hat , hat 2022 weltweite Banking- Apps auf Herz und Nieren geprüft . Eines der Ergebnisse : Nicht alle Kund : innen können die Apps und Online-Auftritte von Banken gleich gut nutzen . Die Finanzbranche baut immer fortschrittlichere Angebote , die jedoch selten richtig barrierefrei sind . Dabei spricht Applause den Finanzunternehmen nicht das Bewusstsein dafür ab . Jedoch würde der ständige Innovationsdruck schnell dazu führen , dass Details übergangen werden , die nur einen kleinen Kundenkreis betreffen , etwa Menschen mit Sehbeeinträchtigung , die auf Bildschirmleser angewiesen sind . Wenn dann im Backend nicht alle interaktiven Elemente sinnvoll benannt seien , könne eine Nutzerin nicht mehr erkennen , was sie nun machen müsse , um in der App fortzufahren . Dazu kommen Anglizismen und experimentelle Designs , bemängelt die Expertin Agnieszka Walorska . Seit Jahren beschäftigt sich die Berliner Unternehmerin ( Panq ) mit Fragestellungen rund um IT und digitale Ethik . Unter anderem hat sie Fintech-Lösungen auf ihre Tauglichkeit für eine ältere Nutzerschaft untersucht . „ Viele sind es gewohnt , ihre Kontoauszüge in Ordnern abzuheften “, sagt sie über die Zielgruppe . „ Solche Gewohnheiten legt man gerade in dem Alter noch schwieriger ab , als als junger Mensch .“ Das bedeute jedoch nicht , dass diese Menschen nicht bereit seien , zum Beispiel Online-Transaktionen zu tätigen . Nur kämen sie eben bei dem Tempo der technologischen Weiterentwicklung nicht mehr mit .
Es ist schon erstaunlich , dass sich Banken genau wie Fintechs dieser Zielgruppe nicht besser annehmen . „ Longevity “ setzt sich als Trendbegriff dafür gerade erst durch , doch das Thema ist altbekannt . Dass wir älter werden , ist keine Überraschung – und wird sich vor allem auch nicht ändern . Auch die Generationen Zett , Alpha und irgendwann Beta werden aus all den für die Jüngeren konzipierten Produkten herauswachsen .
Dennoch ist Brygge in Deutschland das bisher einzige Fintech in diesem Bereich . Finanziert werden soll das Unternehmen durch ein solidarisches , nach dem Vermögenslevel abgestuftes Bezahlmodell : Die vermögende Kundschaft soll ein Stück weit auffangen , was die weniger gut Betuchten nicht zahlen können . „ Das Ziel ist eine Gemeinschaft , die sich selbst trägt “, erklärt Cornelia . „ Wir glauben daran , dass die Menschen erkennen werden , dass es künftig solche solidarischen Geschäftsmodelle braucht .“ Klar ist , dass die Zielgruppe enorm heterogen ist : Ein durchschnittlicher Neurentner hat andere Ziele und Pläne als die betagte Kundin , die bereits seit drei Jahrzehnten ihre Pension genießt . Allen gemein ist derzeit aber , dass sie keine Digital Natives sind , dass sie also in einer analogen Welt aufgewachsen sind und die allgegenwärtige Digitalisierung erst zu einem Zeitpunkt für ihr Leben relevant wurde , als man diese nicht mehr ganz so leicht lernen konnte . Viele begegnen der Technik mit Skepsis , anderen fehlt es einfach an der nötigen Medienkompetenz . Dazu steigt mit dem Alter der Kundschaft statistisch die Wahrscheinlichkeit , dass sich körperliche Gesundheit , Fitness im Umgang mit digitalen Medien und auch finanzielle Bedürfnisse von denen der jüngeren Kundschaft unterscheiden . Aspekte wie Betrugsprävention werden auf einmal wichtiger und gehören wenig verwunderlich auch zu den Versprechen von Brygge .
Longevity ist eine Entwicklung , der sich kein Finanzinstitut entziehen kann . Zumal selbst die hyperdigitalen , mobilen Nachwuchs-Generationen von heute irgendwann da sein werden , wo 60- , 70- oder 80-jährige Kund : innen heute stehen … Am besten wäre , wenn es in Banking-Apps gar keine Extra-Einstellung für ältere Zielgruppen geben müsse , gibt Agnieszka Walorska zu verstehen . Ob Bilderkennung , Speech-to-text oder Künstliche Intelligenz : Die Technik sei doch da und von aufgeräumten Oberflächen würden am Ende alle Kundinnen und Kunden profitieren .
Ja , liebe Banken : Ein kluges , barrierefreies Backend , das die Bedürfnisse der Ältesten berücksichtigt , ließe sich mit anderer Oberfläche vielleicht gleichzeitig für die ersten Schritte der Jüngsten in die Finanzwelt nutzen . Und auch die Altersstufen dazwischen würden sich vermutlich nicht über weniger Komplexität im Design beschweren . Die Möglichkeiten sind da – jetzt gilt es , sie zu nutzen .
Autor : innen Caro Bese , Martin Pieck Co-Founder : in von finletter und Fintech Week , Redakteur bei finletter Deep Dive
MÄRZ 2023 LONGEVITY
Not ok , Boomer

WAS FINTECHS MIT EINEM LANGEN LEBEN ZU TUN HABEN

Foto : unsplash , Foto Sushi , Sean Sinclair
LESEDAUER : 7 MIN

Wenn Menschen länger auf dieser Erde sind , dann sollen sie auch länger eine hohe Lebensqualität haben , sagt die Longevity-Bewegung . Welche Rolle spielen Banken und Fintechs für die längere Lebensdauer ?

Wir werden immer älter : Laut Prognose des Statistischen Bundesamtes könnte die durchschnittliche Lebenserwartung im Jahr 2060 für Männer auf 84,8 und für Frauen auf 88,8 Jahre ansteigen . Zum Vergleich : Aktuell liegt sie bei 78,5 bzw . 83,4 Jahren . Longevity ist der trendige Begriff für diese steigende Lebensdauer und Longevity-Techs sind die Unternehmen , die ihren Beitrag dazu leisten wollen , diese lange Lebenszeit weiter zu verlängern oder zumindest zu verbessern .

Da geht es genauso um die App , die Menschen in Bewegung halten soll , den Pflegeroboter , der mit den Menschen in Pflegeheimen interagiert , oder um neueste Biotech-Erfindungen . Aber zu einem langen Leben gehört eben auch , dass man sich das Altern leisten können muss . Innerhalb der Longevity-Bewegung spricht man dann von Longevity- Fintech , ein zugegebenermaßen noch sehr kleiner Markt . In Deutschland gibt es sehr wenige Startups , die dazu gezählt werden können , darunter die Neobank Brygge .
Cornelia Schwertner ist eine der Gründerinnen dieses Hamburger Fintechs , das seine App die „ smarte Lesebrille beim Banking “ nennt . Einfach , weil man ab einem bestimmten Alter halt etwas mehr Unterstützung braucht – und ihr Unternehmen will sie bieten . Ihre Zielgruppe nennen sie bei Brygge „ Menschen in der zweiten Hälfte ihres Lebens “. „ Bei diesen Menschen geht es nicht mehr um den langfristigen Vermögensaufbau “, erzählt uns Cornelia im Gespräch . „ Es geht eher darum , wie man Vermögen sinnvoll wieder abbaut , wenn es da ist . Sonst geht es eher darum , wie man bis zum Monatsende durchhält .”
Diesen Menschen bieten die Macherinnen von Brygge nicht etwa ein neues Konto , sondern eine auf Open Banking basierende App , in der ein vorhandenes Konto – zum Beispiel von einer Sparkasse – eingebunden wird . Sicherlich eine gute Entscheidung , schließlich sinkt statistisch gesehen mit dem Alter die Wahrscheinlichkeit , dass jemand sein Girokonto wechselt .
Auf der Brygge-Website ist zu lesen , dass 70 Prozent der Menschen ab 60 Jahren noch nicht den Schritt ins Online-Banking gegangen sind . Angesichts des drastischen Filialsterbens der vergangenen Jahre bedeutet das für die Zielgruppe auf kurz oder lang ein Problem .

HIP , ABER ALTERS- DISKRIMINIEREND

Applause , ein US-Unternehmen , das sich auf App- Tests spezialisiert hat , hat 2022 weltweite Banking- Apps auf Herz und Nieren geprüft . Eines der Ergebnisse : Nicht alle Kund : innen können die Apps und Online-Auftritte von Banken gleich gut nutzen . Die Finanzbranche baut immer fortschrittlichere Angebote , die jedoch selten richtig barrierefrei sind . Dabei spricht Applause den Finanzunternehmen nicht das Bewusstsein dafür ab . Jedoch würde der ständige Innovationsdruck schnell dazu führen , dass Details übergangen werden , die nur einen kleinen Kundenkreis betreffen , etwa Menschen mit Sehbeeinträchtigung , die auf Bildschirmleser angewiesen sind . Wenn dann im Backend nicht alle interaktiven Elemente sinnvoll benannt seien , könne eine Nutzerin nicht mehr erkennen , was sie nun machen müsse , um in der App fortzufahren . Dazu kommen Anglizismen und experimentelle Designs , bemängelt die Expertin Agnieszka Walorska . Seit Jahren beschäftigt sich die Berliner Unternehmerin ( Panq ) mit Fragestellungen rund um IT und digitale Ethik . Unter anderem hat sie Fintech-Lösungen auf ihre Tauglichkeit für eine ältere Nutzerschaft untersucht . „ Viele sind es gewohnt , ihre Kontoauszüge in Ordnern abzuheften “, sagt sie über die Zielgruppe . „ Solche Gewohnheiten legt man gerade in dem Alter noch schwieriger ab , als als junger Mensch .“ Das bedeute jedoch nicht , dass diese Menschen nicht bereit seien , zum Beispiel Online-Transaktionen zu tätigen . Nur kämen sie eben bei dem Tempo der technologischen Weiterentwicklung nicht mehr mit .

TOP-KUNDENGRUPPE WIRD IGNORIERT

Es ist schon erstaunlich , dass sich Banken genau wie Fintechs dieser Zielgruppe nicht besser annehmen . „ Longevity “ setzt sich als Trendbegriff dafür gerade erst durch , doch das Thema ist altbekannt . Dass wir älter werden , ist keine Überraschung – und wird sich vor allem auch nicht ändern . Auch die Generationen Zett , Alpha und irgendwann Beta werden aus all den für die Jüngeren konzipierten Produkten herauswachsen .
Dennoch ist Brygge in Deutschland das bisher einzige Fintech in diesem Bereich . Finanziert werden soll das Unternehmen durch ein solidarisches , nach dem Vermögenslevel abgestuftes Bezahlmodell : Die vermögende Kundschaft soll ein Stück weit auffangen , was die weniger gut Betuchten nicht zahlen können . „ Das Ziel ist eine Gemeinschaft , die sich selbst trägt “, erklärt Cornelia . „ Wir glauben daran , dass die Menschen erkennen werden , dass es künftig solche solidarischen Geschäftsmodelle braucht .“ Klar ist , dass die Zielgruppe enorm heterogen ist : Ein durchschnittlicher Neurentner hat andere Ziele und Pläne als die betagte Kundin , die bereits seit drei Jahrzehnten ihre Pension genießt . Allen gemein ist derzeit aber , dass sie keine Digital Natives sind , dass sie also in einer analogen Welt aufgewachsen sind und die allgegenwärtige Digitalisierung erst zu einem Zeitpunkt für ihr Leben relevant wurde , als man diese nicht mehr ganz so leicht lernen konnte . Viele begegnen der Technik mit Skepsis , anderen fehlt es einfach an der nötigen Medienkompetenz . Dazu steigt mit dem Alter der Kundschaft statistisch die Wahrscheinlichkeit , dass sich körperliche Gesundheit , Fitness im Umgang mit digitalen Medien und auch finanzielle Bedürfnisse von denen der jüngeren Kundschaft unterscheiden . Aspekte wie Betrugsprävention werden auf einmal wichtiger und gehören wenig verwunderlich auch zu den Versprechen von Brygge .
Foto : unsplash , curology , Sean Sinclair

ANGEBOTE , DIE KEIN ALTER HABEN

Longevity ist eine Entwicklung , der sich kein Finanzinstitut entziehen kann . Zumal selbst die hyperdigitalen , mobilen Nachwuchs-Generationen von heute irgendwann da sein werden , wo 60- , 70- oder 80-jährige Kund : innen heute stehen … Am besten wäre , wenn es in Banking-Apps gar keine Extra-Einstellung für ältere Zielgruppen geben müsse , gibt Agnieszka Walorska zu verstehen . Ob Bilderkennung , Speech-to-text oder Künstliche Intelligenz : Die Technik sei doch da und von aufgeräumten Oberflächen würden am Ende alle Kundinnen und Kunden profitieren .
Ja , liebe Banken : Ein kluges , barrierefreies Backend , das die Bedürfnisse der Ältesten berücksichtigt , ließe sich mit anderer Oberfläche vielleicht gleichzeitig für die ersten Schritte der Jüngsten in die Finanzwelt nutzen . Und auch die Altersstufen dazwischen würden sich vermutlich nicht über weniger Komplexität im Design beschweren . Die Möglichkeiten sind da – jetzt gilt es , sie zu nutzen .
Autor : innen Caro Bese , Martin Pieck Co-Founder : in von finletter und Fintech Week , Redakteur bei finletter Deep Dive
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